c-days diaries
Aktualisiert: 2. Apr. 2022
Eine persönliche Chronik über verordnete soziale Distanz, die zu eindringlicher familiärer Nähe führt. Über Beobachtungen, die einen über die menschliche Seele wundern lassen. Über Coping-Strategien die funktionieren und solche, die es nicht tun. Über das Eingeständnis verminderter Mathematikkenntnisse. Und über Anzeichen fortlaufenden geistigen Verfalls.

Es begann mit einer Notiz auf Facebook am 16. März 2020. Es war jener Tag, an dem erstmals wegen der Corona-Ausgangsbeschränkungen nicht mehr nur ich im Homeoffice war. Mein Mann okkupierte meinen Schreibtisch (Ich konnte ihn später zurückerobern, also den Tisch). Meine Tochter tanzte "Corona-Ferien" singend durch die Wohnung. Mein Stiefsohn war dem Verzweifeln nahe, weil seine Profs vor lauter Begeisterung über E-Learning jegliches Gefühl für Menge verloren hatten. Alle waren auf die jeweils eigene Art gestresst - selbst die Internetverbindung.
Erkenntnisse Tag 1
# ich liebte mein home-office, solange es mein (also wirklich mein) home-office war.
# ja, ich finde es unglaublich beruhigend, die familie gemeinsam mit mir in sicherheit zu wissen, aber ich hätte trotzdem die wohnung untertags gerne für mich alleine.
Erkenntnisse Tag 2
Des is jetzt ois nimma so afoch net...
Erkenntnisse Tag 3 - Auf Freigang beim Billa (1)
# die mexikanische community in penzing muss beachtlich groß sein
# sobald man das einkaufswagerl angreift und sich denkt "oh, jetzt darf ich mich nicht mehr im gesicht kratzen", juckt es unter dem linken nasenflügel. dann wandert das jucken quer über die wange, knapp am auge vorbei und über die schläfe mitten auf den hinterkopf.
bei der wursttheke angekommen hat es sich bis zur kniekehle hin ausgebreitet.
# sobald man voller vorfreude auf ausgiebiges kratzen die hände endlich 20 sek. lang gewaschen hat, ist das jucken vorbei.

Erkenntnisse Tag 4 - Auf Freigang beim Billa (2)
# Es gibt nicht nur die 80er-Jahre-Skiurlaub-im-Apartment-Schwammerlpackerlsuppe.
# Es tut sich ein ganzes Universum an Wasser-dazu-und-in-wenigen-Minuten-fertig-Sackerln auf, wenn man das Regal einmal gefunden hat.
# Andere mögen lobpreisen, wie toll es nicht sei, nun 3x täglich kochen und gemeinsam Essen zu können. Ich hingegen kenne die Wahrheit: Realität kommt sackerlweise!

Erkenntnisse Tag 5 # Ich besitze jetzt Air Pods mit noise cancelling, damit ich im lauten Gedränge... okay, hat sich erledigt. # Das war der mit Abstand (schaler Wortwitz) kröniglichste (schalerer Wortwitz) Geburtstag meines ach so jungen Lebens.
Erkenntnisse Tag 6
# Matilda darf von nun an ganz laut SCHEISSE sagen, sofern es um Corona geht.
# Es ist schön, sein Kind beim Heranwachsen zu begleiten.
Erkenntnisse Tag 7
# Ich entwickle Gefühle für die Frauen, die jetzt ihre super-fancy Basteltipps präsentieren, weil man in der Quarantäne doch endlich Zeit hätte, ausgiebig und in Ruhe mit den Kindern zu basteln.
# Es sind keine schönen Gefühle.
Erkenntnisse Tag 8
# Ich weiß nicht mehr, wie wir durch zweistellige Zahlen dividieren gelernt haben, aber so sicher nicht.
# Ich träume heute garantiert davon, dass mir die Matura aberkannt wird.
Erkenntnisse Tag 9
# Ich kann noch Bruchrechnen. Zumindest wenn es ums Umrechnen von Halbe auf Viertel und Achtel geht.
# Meine Fähigkeit dieses großartige Wissen weiterzugeben, ist begrenzt.
# Ich fürchte mich vor Dritteln und Siebenteln.
Erkenntnisse Tag 10
Mit der halben Welt unter Corona-Quarantäne erscheint Lagerfelds Aussage mit einem Mal prophetisch.

Erkenntnisse Tag 11
# Seit ich nicht mehr alleine im home office bin, arbeite ich nicht mehr im Pyjama.
# Der soziale Druck steigt.
Erkenntnisse Tag 12 - Bewältigungsstrategien, eine Analyse
# Panik hilft nicht
# Kugelbahn hilft
# Literatur hilft
# Kugelbahn mit Literatur hilft hilft
Man beachte die versteckten Leseempfehlungen (Michael Stavarič Martin Peichl, Petra Piuk), rufe beim nächstgelegenen Buchgeschäft an, lasse liefern und genießen]
Erkenntnisse Tag 13
# Der Tag ist fast vorüber - ich hatte keine Erkenntnisse
# Weil sich die Abnormalität schon normal anfühlt?
# Weil ich klein beigegeben habe?
# Keine Erkenntnisse zu haben, ist beängstigend
Erkenntnisse Tag 14
# Der große Bruder ist der bessere Mathe-Lehrer. Frau Tochter ist auf einmal nicht in der Sekunde, in der man etwas zu erklären beginnt, auf 100.
# Großer Bruder müsste man sein.
Erkenntnisse Tag 15 – Auf Freigang beim Billa (3) # Vor den Joghurts stehend habe ich bemerkt, dass ich ohne BH unterwegs bin. # Wenn die Freiheiten beschränkt werden, muss man sie sich anderwärtig zurückerobern. # Auch meine BHs werden bald anderwärtig das Haus verlassen.
Erkenntnisse Tag 16
# Ich habe Handarbeiten schon als Kind gehasst.
# Das ändert sich nicht, nur weil es jetzt textiles Werken heißt.
# Das ändert sich nicht, nur weil es jetzt maskenhaft praktisch wäre.
Erkenntnisse Tag 17
Der große Vorteil von Treffen in der virtuellen Cocktail-Bar: Man findet auf jeden Fall nachhause.

Erkenntnisse Tag 18 # Morgen geben wir Matildas Arbeitsblätter der letzten 3 Wochen in der Schule ab. Aber erst müssen wir sie mit den Lösungszetteln vergleichen. # Ich fühle mich wie vor einer Prüfung.
Erkenntnisse Tag 19 # Ich bin seit mehr als einer Stunde allein in der Wohnung. # Fühlt sich an wie Ferien von Corona. # Ferien gehen immer viel zu schnell vorbei.
Erkenntnisse Tag 20
Wenn der eigene Aktionsradius kurz hinterm Wienerwald endet, empfiehlt sich eine Reise in die Südsee mit Disney.
„Voll gerne!“
Erkenntnisse Tag 21 (Nachtrag) – Zeichen geistigen Verfalls (1) # Mein Geist war gestern sehr damit beschäftigt ein großes Rätsel des Lebens zu lösen, daher heute der Erkenntnis-Nachtrag: Über Stunden hinweg suchte ich nach der Antwort, warum in einem Artikel die Bedeutung einer Stammbuch-Handlung angepriesen wurde. Ich meine, ein eigenes Geschäft für Stammbücher? Wer besitzt, nein besitzt überhaupt noch irgendwer ein Stammbuch? # Schließlich dämmerte es mir, dass von einer Stamm-Buchhandlung die Rede war. # Zu meiner Entschuldigung muss gesagt werden, dass im Artikel „Stammbuchhandlung“ ohne Bindestrich geschrieben stand.
Erkenntnisse Tag 22 – Zeichen geistigen Verfalls (2)
# Auf der Seite der Wirtschaftskammer (mit „k“) las ich heute: „… einen verhammerten oder nicht verhammerten Freien Beruf selbstständig ausüben…“
# Ist es ein Freud’scher Verleser? Wenn ja, was will er mir sagen?
# Rutscht mein Verstand distance-learning-bedingt zurück auf Volksschulniveau?
Erkenntnisse Tag 23
# Heute dachte ich mir: Jetzt beginnen bald die Ferien, Matilda fährt zu Oma und Opa, ich kann wieder in Ruhe arbeiten. # Dann wurde mir bewusst, dass gerade Ferien sind. Aber dass sie sich nicht anfühlen wie Ferien, weil sich auch Arbeit und Schule nicht anfühlen wie Arbeit und Schule. Dass sich auch die nächsten Wochen nicht anfühlen werden, wie sie sich anfühlen sollten. Und dass diese Wochen vielleicht Monate dauern werden.
Erkenntnisse Tag 24
# Es stimmt tatsächlich: Jetzt wo wir den ganzen Tag zuhause verbringen (dürfen), ist Zeit für neue Projekte. Zum Beispiel auch einmal noch vor Ostern die Wohnung österlich zu schmücken.
# Also habe ich den Osterschmuck heute schon aus dem Kastl geholt.
# Er steht jetzt in Sackln am Esstisch.
Erkenntnisse Tag 25
# Die Sackerl mit dem Osterschmuck stehen noch genau so da wie gestern.
# Sie müssen sich erst akklimatisieren.

Erkenntnisse Tag 26
Ist der Osterschmuck erst mal akklimatisiert, braucht er Frischluft.

Erkenntnisse Tag 27 # Ich bin eine fast schon musterhafte 1m-Abstand-Halterin. Vorausschauend, abwägend, Vorrang gebend schlängle ich mich im Slalom den Gehsteig entlang. # Wenn notwendig, steige ich auch kurz auf die Straße hinunter oder stelle mich in eine Toreinfahrt, wenn's eng wird. Alles kein Problem. # Wenn ich dafür jedoch einen irgendwo zwischen boshaft und hasserfüllt angesiedelten Du-Möderin-Blick zugeworfen bekomme, gerät mein innerer Osterfrieden ins Wanken.
Erkenntnisse Tag 28 - Demaskierungen (1)
Was früher Warnwesten am Autositz waren, sind jetzt Masken am Rückspiegel.
Erkenntnisse Tag 28 - Bewältigungsstrategien (2) # Kugelbahn hilft # Osterschoko hilft # Kugelbahn mit Osterschoko hilft hilft
Erkenntnisse Tag 29 & 30 (Nachtrag) – Zeichen geistigen Verfalls (3) # Habe meine Erkenntnisse des Tages zu berichten vergessen. # Habe meine Erkenntnisse des Tages vergessen. # Habe den Tag vergessen.
Erkenntnisse Tag 31 – Zeichen geistigen Verfalls (4)
Zitat Christine Steindorfer: „Man muss die Prioritäten schon setzen, wie sie liegen.“
Erkenntnisse Tag 32 „Mama, das ist nicht mehr MEIN Plan. Ich habe jetzt einen eigenen Plan“, sprach Frau Matilda. Der Plan verstand sich als selbstbestimmte Tagesgestaltung mit ganz viel Handy, iPad und TV, dafür distance learning unter steigendem Protest. Dann kamen die Ferien, die nur als solche zu erkennen waren, weil der steigende Protest nun von (exponentiell) steigender Fadesse abgelöst wurde. Nun ist wieder „Schulzeit“ und Matildas mittlerweile liebevoll-diktatorisch anmutende Einforderung der Selbstbestimmung wurde auf das Anordnen bunter Zettelchen zurückgefahren. Ihre Begeisterung erwies sich als geringer als unsere. Der Haussegen ist wieder zurechtgerückt.

Erkenntnisse Tag 33 – Zeichen geistigen Verfalls (5)
Erkenntnisse Tag 34
# Ich glaube, unsere Couch fängt schon zu muffeln an.
# Ich bin mir ziemlich sicher.
# Ich werde es ignorieren.
Erkenntnisse Tag 36
Wie ich von Elke T. erfahren durfte, kann ich nicht einmal mehr bis 35 zählen. Für diese erkenntnishafte Irreführung möchte ich mich hiermit in aller gebotenen Höflichkeit entschuldigen. Wobei ich mir doch die Frage stelle, warum die liebe Frau Elke so lange mit ihrem Wissen hinter dem Berg gehalten hat. War es Nervenkitzel, eine Stichelei oder gar Schadenfreude?
Auf jeden Fall springe ich von gestern auf heute von 34 auf 36. Die letzten 6 Post werde ich selbstredend nicht edieren, immerhin bin ich Scheiterexpertin. Es gibt mir jedoch zu bedenken, dass sich zu meiner Divisionsunfähigkeit nun auch eine Additionsschwäche gesellt. Nicht zu vergessen, es gibt auch noch meine mangelhafte Kompetenz, Phrasen korrekt wiederzugeben (nachzulesen weiter unten in einem der falsch nummerierten Posts).
Und dennoch sehe ich davon hab, dies als ein weiteres „Zeichen geistigen Verfalls“ zu deklarieren. Ich such mir lieber ein Sandhauferl und steck den Kopf hinein.
Erkenntnisse Tag 37
09:15 Ich höre das Ö1-Morgenjournal nach, Kogler: „Ab Mitte Mai wird es auch im schulischen Bereich Schritte geben.“
12:20 Ich höre das Ö1-Mittagssjournal, aber nichts von Kogler
12:35 Blick in den Kühlschrank: Ich greife nach dem Saft und streife dabei eine Weinflasche, unabsichtlich.
12:45 Blick in den Kühlschrank: Ich greife nach dem Saft und streife dabei die Weinflasche.
12:50 Blick in den Kühlschrank: Ich streife liebevoll über die Weinflasche.
12:55 Blick in den Kühlschrank: Ich lächle die Weinflasche an.
12:56 Blick in den Kühlschrank: Die Weinflasche lächelt zurück.
Ich frage mich, ob 12:57 schon als after work durchgeht.
Erkenntnisse Tag 38 - innerfamiliärer Frieden
# Quarantäne hilft nicht.
# Erste präpubertäre Anwandlungen der Tochter helfen nicht.
# Quarantäne und präpubertäre Anwandlungen helfen nicht nicht.
Erkenntnisse Tag 39 - Demaskierungen (2)
# Sobald ich mir die Maske aufsetze, überkommt mich ein Niesreiz.
# Ich werde oft allein im Geschäft stehen.
Erkenntnisse Tag 40
# Die Kinder sehnen nun also kollektiv dem 18. Mai entgegen. Nicht wegen der Schule, wegen der Freund*innen. Bis dahin spielen sie sicherheitsabständisch am Gehsteig.
# Auch eine Art Genügsamkeit zu lernen.

Erkenntnisse Tag 41 # Die Aussicht, dass Frau L. erst wieder in vielen Wochen (gefühlt frühestens in einem Jahrzehnt) Hand an unsere Wohnung legen wird, ließ mich zu drastischen Mitteln greifen. # Im Backrohr kann man sich jetzt spiegeln. # Ich meine, es ist schöner geputzt als jemals zuvor.
Erkenntnisse Tag 42
# Heute Nacht habe ich geträumt, ich weiß nicht mehr von wem, aber davon, dass wir uns zur Begrüßung auf die Wange küssen.
# Es war ein schöner Traum.
Erkenntnisse Tag 43 Corona-Begriffe, die ungustige Bilder in mein Kopfkino einschleusen: Übersterblichkeit, Virusausscheidung, Durchseuchung. „In Zeiten von Corona“ macht daraus eine nervtötende Talkshow, „Es ist keine Schande“ verwandelt es in ein B-Movie.
Erkenntnisse Tag 44
# Vor sechs Wochen dachte ich mir: Warum nur habe ich das Treffen mit dieser oder jenem immer wieder verschoben? Wer weiß, wann wir uns wiedersehen können.
# Vor sechs Stunden dachte ich mir: Großartig, ich kann alle wiedersehen.
# Seit sechs Minuten fühle ich mich gestresst.
Erkenntnisse Tag 45
Distance learning, Spezialdisziplin Divisionen:
Ich: Ich bin so super!
Matilda: Vielleicht nicht in Mathe, aber im Mama-Sein bist ganz akzeptabel.
Erkenntnisse Tag 46
Gilt man als Stammgast, wenn einem der junge Mann vom Cocktail-Lieferservice die Drinks mit den Worten „Freut mich, dich wiederzusehen“ überreicht?
Erkenntnisse Tag 47
# Man kann es drehen und wenden, wie man will, es geht einfach nicht so viel weiter, wenn alle die ganze Woche da sind und eine davon gerade mal so zweistellig ist. Manche Arbeiten schiebe ich von einer Woche zur nächsten und zur nächsten und...
# Also schiebe ich jetzt Nachtschicht und der „Tag der Arbeit“ bekommt für mich eine ganz neue Bedeutung.
Erkenntnisse Tag 48 - Auf Freigang beim Billa (4) Selbst als vorbildlich maskierte Distanzhalter*innen sollten wir weiterhin nur einmal in der Woche Supermarkt-Shoppen gehen. Gute Idee, ja eh, geht aber an der Realität vorbei… … außer man hat eine Tiefkühltruhe. … außer man hat einen Lieferwagen. … außer man hat eine Tiefkühltruhe und einen Lieferwagen.
Erkenntnis Tag 49 # Wie es sich gehört, habe ich in den letzten Wochen selbst kleine Beträge mit Karte bezahlt. Mit dem Ergebnis, dass ich heute vor dem Bankomaten stand wie die sprichwörtliche Kuh vorm frisch gestrichenen Tor. # Es stimmt also, auch kleine Beträge können eine große Wirkung entfalten.
Erkenntnisse Tag 50
# In den ersten Tagen konnte ich mich vor Erkenntnissen gar nicht erwehren.
# Sie werden zunehmend weniger.
# Ist es Gewöhnung oder Resignation?
Erkenntnisse Tag 51