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Über herüben und drüben, über sprachliches Unvermögen und gefühlte Ähnlichkeit

Aktualisiert: 18. Aug. 2020

An den Tagen davor war ich vor allem gespannt, wie ein Workshop mit Simultanübersetzung sein würde. Letztlich sollten mich ganz andere Fragen beschäftigen. Denn die Fahrt nach Südböhmen bescherte mir einen Flashback in die 1990er Jahre und ließ mich zwischen Verwunderung, Nachdenklichkeit und (N)Ostalgie pendeln.

In der ersten Novemberwoche hielt ich einen zweitägigen Workshop zum Thema Kultur-PR und Schreibstrategien für 20 Mitarbeiter/innen regionaler Kultureinrichtungen. Soweit nicht ungewöhnlich. Was diesen Workshop aber von allem (für mich) bisher Dagewesenen unterschied: Meine Worte wurden deutsch-tschechisch simultanübersetzt. Wie das so war, dazu später. Erst mal reiste ich an – und durch die Zeit.


Herüben und drüben und dazwischen fehlen die Gleise


Tag -1: Ich tingle mit dem Zug durch das Waldviertel Richtung Budweis, zwischen Gmünd und České Velenice passiere ich die Grenze. Als ich zuletzt hier unterwegs war, musste ich den Weg im wahrsten Sinne des Wortes beschreiten. Es war Anfang der 1990er Jahre und ich mit einer Freundin am Heimweg von einem Prag-Wochenende. Der Zug endete in České Velenice, der erst wenige Jahre zuvor niedergerissene Eiserne Vorhang lebte im ehemaligen Niemandsland noch weiter: Auf der kurzen Strecke bis Gmünd fehlten weiterhin die Gleise.


Also gingen wir damals zu Fuß herüber, machten uns über den nächsten Bankomaten her und eilten ins Gasthaus. Der Hunger war groß. Nicht etwa, weil wir der tschechischen Küche nichts abgewinnen hätten können (was auch nur schwer möglich wäre). Uns ist schlicht und ergreifend das Bargeld ausgegangen und diese Selbstverständlichkeit, allerorts im Ausland am Bankomaten Geld abzuheben, schwebte noch als Utopie über Europa – falls sie zu der Zeit überhaupt schon schwebte.


Heute fährt der Zug logischerweise durch. Ich merkte nichts von einem Grenzübertritt, drüben sieht es genauso aus wie herüben – nur weniger aufpoliert, dafür mit mehr Patina. Mein (n)ostalgisches Herz hüpfte.


Die eigenen Worte mit fremder Stimme im eigenen Ohr


Tag 1: Mein erster Workshop mit Simultanübersetzung, ich lege los. Nein, meine hervorragende Dolmetscherin Vlaďka und ich legen los, die Teilnehmer/innen blicken uns mit dem Headset im Ohr erwartungsvoll entgegen. Nach einiger Zeit merke ich, dass zwei von ihnen nur mit einem Ohr hineinhören, gleichzeitig mit dem anderem dem deutschen Original, also mir, lauschen. Gegen Ende des Workshops sind es einige mehr. Die meisten von ihnen haben ein beachtliches Sprachniveau und ich ziehe den Hut.


Tag 2: Fragerunde, Vlaďka übersetzt für mich. Erst später fällt mir auf, dass ich anschließend das Headset in meinem Ohr gelassen habe. Sie spricht wieder zu den Teilnehmer/innen und ich höre mir sozusagen selbst auf Tschechisch zu. Nachdem sich mein Tschechisch auf „dobrý den“ und „děkuji“ beschränkt , stört es mich nicht beim Reden. Vielmehr hat es etwas Verbindendes dasselbe zu hören wie die Teilnehmer/innen.


Der Erkenntnisse drei


Beim Essen unterhalten sich die Teilnehmer/innen mit mir auf Englisch, manche trauen sich gegen Ende hin auch über ein Gespräch auf Deutsch. Und während sie untereinander tschechisch reden, rekapituliere ich im gedanklichen Selbstgespräch.


Erkenntnis 1 – Wenn ich auf Zuruf Überlegungen der Teilnehmer/innen sammeln und sie auf der Flipchart notieren möchte, komm ich mit Deutsch alleine nicht weit. Da ist es gut, wenn eine Dolmetscherin gerne als Co-Trainerin einspringt.


Erkenntnis 2 – Schreibstrategien lassen sich tatsächlich ohne Probleme in einer anderen Sprache vermitteln, als sie anschließend angewendet werden. (Gott sei Dank, sonst wäre meine Workshop-Planung zerbröselt.) Wir erleben nun einmal eine ähnliche Schreibsozialisation, fühlen dieselben Schreibängste und unsere Gehirne arbeiten gleich, wenn es darum geht, schreibend Ideen zu generieren oder Ordnung in das Wissens-Wirrwarr zu bringen.


Erkenntnis 3 - Ich fühle mich schlecht, dass ich bisher nicht einmal noch den Versuch unternommen habe, tschechisch zu lernen. Ich versuche es mir schönzureden, es wäre ja unseren ungarischen Nachbar/innen gegenüber unfair, von den Italiener/innen und Slowak/innen ganz zu schweigen. Eine müde Ausrede, ich weiß.


Von drüben nach herüben


Die zwei Tage sind um, ich fahre heim, freue mich, dass ich Bahnkarte, Weckerl und Getränk mit meiner Bankomatkarte zahlen kann, und frage mich, warum in Tschechien noch mit Kronen bezahlt wird. Dann beschließe ich später darüber nachzudenken und lasse mich vom Rattern des Zuges über die Grenze hinaus in den Schlaf wiegen.




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